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Vernachlässigte Perspektive(n)

Ein Aspekt, welcher nicht betrachtet wurde, ist die Verhandlungsposition der Arbeitgeberseite. (1010) Wenn auf Seiten des Betriebsrates Kompetenz in Bildungsfragen zum Hemmschuh der Interessenvertretung geraten kann, wieso dann nicht auch auf Seiten der Firmenleitung ? Betriebsvereinbarungen zu Qualifizierungsmaßnahmen mit $\gg$Benefit Charakter$\ll$ lassen auf einen kompetenzbedingten Machtverlust schließen. - Von einem dreitägigem Kurs $\gg$PC-Führerschein$\ll$ für beliebige Mitarbeiter hat niemand etwas ! Der Bildungskonsument vergißt das $\gg$gelernte$\ll$ bei fehlender regelmäßiger Anwendung schon bald, der Arbeitgeber hat ohnehin nicht die Absicht diese $\gg$Qualifikation$\ll$ zu nutzen und der Interessenvertretung der Arbeitnehmer schränkt ein solcher $\gg$Erfolg$\ll$ nur die Chancen auf dringlichere Problemlösungen ein. (Und sei dies nur ein zehntel Prozent mehr Lohn) Der einzige Vorteil, welchen die Zustimmung zu solchen Kompromissen erkennen läßt, liegt in der Entspannung der Atmosphäre innerhalb des Betriebes. Beide Seiten dokumentieren Good-Will und Engagement für die Zukunft;(1010) es bleibt jedoch zu bedenken, daß die Prägung einer kooperativen und kompromißfähigen Unternehmenskultur durchaus Vorteile für die Unternehmensführung zeitigen kann. Diese Überlegungen führen zu einem weiteren nicht ausreichend berücksichtigten Punkt. In dieser Abhandlung, und weitgehend auch in der neueren industriesoziologischen Literatur, dominieren die formalen Strukturen der Organisationseinheit Betrieb; Gesetze, Verträge, technische Rahmenbedingungen. Es scheint als wäre die formale Organisation mit der Betriebswirklichkeit gleichsetzbar. "Daß...der Bereich informeller Prozesse und Normen bei der Analyse der Beziehungen zwischen Betriebsrat und Management bis in die letzten Jahre ausgeblendet oder doch zumindest marginalisiert wurde, ist aber wesentlich auch dem vergleichsweise hohen Grad der Verrechtlichung der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland geschuldet"184 Obwohl dieser genannte hohe Grad der Verrechtlichung zur Überbetonung der formalen Strukturen verführt, verweist er gleichzeitig auf die notwendige Existenz informeller Regelungen. So ist die Präferierung der betrieblichen Verhandlungspartner seitens der Arbeitgeber (gegenüber tariflichen Regelungen) sicher nicht mit der rechtlichen $\gg$Pflicht zur vertrauensvollen Zusammenarbeit$\ll$ zu erklären. Auf der anderen Seite müßte die buchstabengetreue Wahrnehmung aller Mitbestimmungsrechte durch den Betriebsrat (zur qualifizierten Mitbestimmung müßte dieser sich jedes Thema erarbeiten, seine Bedeutung und die Folgen verschiedener Handlungsoptionen rational gegeneinander abwägen und dies bei einer Vielzahl von mitbestimmungspflichtigen Tatbeständen) entweder a) den Betriebsrat überfordern, b) den Betriebsrat von externen Ratgebern abhängig machen oder c) betriebliche Entscheidungen erheblich zeitlich verzögern. Da solche Symptome nicht zu beobachten sind, kann auf das Existieren von relativ leistungsfähigen informellen Regelungsmechanismen geschlossen werden. Diesen müßte jedoch eine separate Abhandlung gewidmet werden.
Der Aspekt informeller Strukturen, führt uns zu einer weiteren Frage, welche bislang in der Bildungsdiskussion noch nicht gestellt wird: Wie wirkt sich technisch leicht verfügbares Wissen auf die Motivation der Auszubildenden, gerade im allgemeinbilden Bereich z.B. in Bezug auf Fremdsprachen aus ? Macht der elektronische Übersetzer in der Westentasche die eigenen Sprachkenntnisse überflüssig ? (zumindest in den Augen der Auszubildenden) Welche Bedeutung werden $\gg$Hirn-Prothesen$\ll$ für die Inhalte von beruflicher Bildung erlangen ? Nicht zuletzt das enorme Wachstum des angesammelten Wissens, scheint den einzelnen zu überfordern. Läßt die rasant expandierende Wissensbasis den $\gg$Generalisten$\ll$ aussterben ? Wird die Lehre atomisiert, werden die heutigen Berufe in eine Vielzahl von Sub-Professionen zerfallen ?
Oder wird vielleicht in Zukunft (durch lebendige Menschen) nur noch das Grundwissen zur Informationsbeschaffung vermittelt ? Die zunehmend kürzer werdende Halbwertszeit beruflichen Wissens läßt eine größere Bedeutung der Fähigkeit zu lernen erwarten. Aufgrund der sich reduzierenden zeitlichen Abstände, in welchen Wissen veraltet, wird es schwieriger werden Ausbilder rechtzeitig bereitzustellen. In Zukunft werden schnellere Medien der Bildungsvermittlung an Bedeutung gewinnen. Der Erfolg von $\gg$Special-Interest Magazinen$\ll$ bei den Print-Medien (verwiesen sei auf die Vielzahl von Computer- und Elektronik- Zeitschriften, auf teilweise beachtlichem technischem Level, welche mittlerweile an jedem Kiosk zu erhalten sind)
scheint einen Trend in Richtung auf $\gg$SB-Bildung$\ll$ anzudeuten. Da auch die Wissensproduktion zunehmend automatisiert wird (die deduktive Methode der Erkenntnisgewinnung auf Computer zu übertragen ist bereits gelungen, der Name $\gg$Künstliche Intelligenz$\ll$ ist aber noch? Übertreibung), wird mit einiger Wahrscheinlichkeit der Spielraum für Qualifizierungsmaßnahmen im herkömmlichen Sinne verloren gehen. Dies muß nicht das Zeitalter der Autodidakten bedeuten, auf jeden Fall wird jedoch ein weitaus intensiveres persönliches Bildungs-Engagement des Individuums gefordert werden.
Ausgehend von einer Individualisierung der Bildung, stellt sich die Frage nach der Bedeutung der industriellen Akteure in der Zukunft. - Im Bereich der Spitzentechnologien werden sie zweifellos an Einfluß verlieren. In den Bereichen der rasanten Veraltung von Kenntnissen und Fertigkeiten ist das Individuum allein auf der Jagd nach aktuell gültiger Erkenntnis.
In weiten Bereichen von Verwaltung und Dienstleistung, werden Neuerungen wesentlich langsamer diffundieren, als dies im $\gg$High-Tech-Bereich$\ll$ geschieht. Auf diesem Felde werden die Akteure weiterhin um die Ausgestaltung von betrieblichen Formen der Aus- und Weiterbildung disputieren.
"Um die Überorganisation der gegenwärtig lebenden Menschenmassen zu lockern, bedarf es einer grundlegenden Umstrukturierung der menschlichen Gesellschaft"185 forderte Konrad Lorenz. Vielleicht führt die Individualisierung der Bildungsinhalte in diese Richtung.


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Matthias Steppuhn 2003-07-05